
Der Februar in Brasilien ist der Monat von Iemanjá
Auf dem Papier ist die Sache mit den Religionen in Brasilien klar. Brasilien ist ein katholisches Land. Ein sehr katholisches Land sogar. Nach der letzten großen Datenerhebung des Instituts für Geographie und Statistik aus dem Jahr 2000 sind beinahe 75% der Menschen in Brasilien katholisch (und das leider auch mit den negativen Folgen, die zu viel Katholizismus mit sich bringt, wie bspw. das fehlende Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Frauen usw). Weiter 15% sind Anhänger einer protestantischen Kirche und 7,3% geben „keine Religion“ als ihren Glauben an. Die restlichen Religionen sind Spiritismus 1,6%, andere Christen 1%, Umbanda 0,3%, Buddhismus 0,15%, Candomblé 0,8, dann erst folgt Judentum und Islam und die weiteren – sie alle scheinen im Vergleich zu den beiden großen christlichen Religionen unbedeutend. Aber wie so häufig sind die Dinge in Brasilien nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick scheinen.
Als ich an einer Englisch-Schule in Brasilien Konversationskurse in Englisch unterrichtete, gab es zwei Gesprächsthemen, die laut Arbeitsanweisung der Schule unbedingt zu vermeiden waren: Religion und Politik. Man befürchtete ein zu großes Konfliktpotential. Aber viele Brasilianer reden ohne Bedenken und ohne große Scham über ihre Religion. Und dabei wird schnell klar, dass Religion in Brasilien ein faszinierendes und vor allem vielschichtiges Thema ist. Denn auch für Religion gilt in diesem Land: es ist eine faszinierende Mischung.
Da war zum Beispiel ein junger Betriebswirt, Controller in einem mittelständischen Unternehmen, der häufig sagte, dass er auf Gott vertraue, ihn bei schwierigen Entscheidungen in seinem Leben zu helfen. Dieser Gott war ein eher katholischer Gott, denn die Familie ging regelmäßig in die Kirche, aber eigentlich war der Mann Spiritist, wie er mir in späteren Gesprächen erklärte, sein Vater war sogar ein spiritistisches Medium und stand häufig mit den Geistern Verstorbener in Kontakt, die ihm Informationen übermittelten. Da war auch ein etwas vierzigjähriger Angestellter, Mitglied einer evangelikalen Kirche, der mit großem Ernst und Ehrfurcht davon sprach, wie er als Kind im Badezimmer seiner Großmutter in Bahia den Teufel gesehen hatte, nur dass dieser Teufel gar kein christlicher Teufel war, sondern direkt aus einer der afrobrasilianischen Religion zu stammen schien, wie sie im Nordosten Brasiliens häufiger vertreten sind.
Auch viele der wenig oder gar nicht praktizierenden Christen springen zu Silvester (und manchmal auch im Februar) über sieben Wellen und sie besitzen ihren Orixá – das sind die Götter oder Ahnengeister aus den afroamerikanischen Religionen wie dem Candomblé und der Umbanda- Jedem Menschen offenbart sich einer der Orixás als „sein“ Gott und in den Trancezuständen der Eingeweihten ist es genau dieser Gott, den der Gläubige in seinem Trancezustand verkörpert. Im alltäglichen und weniger religiösen Leben sind die Orixas dann häufig so etwas wie ein Schutzgeist ode rSeelenverwandter.
Und nicht zuletzt ist da die Familie, die alle ihre Kinder katholisch taufen lässt, aber nicht aus einem christlichem Glauben heraus, sondern aus einem alten Aberglauben heraus, weil vor einigen Generationen ein ungetauftes Baby der Familie überraschend verstorben war, während das getaufte aber kranke Kind zu aller Überraschung überlebte. All das zeigt, wie sich in der brasilianischen Kultur Religionen häufig nicht gegenseitig ausschließen: Viele Anhänger eine christlichen Religion nehmen auch regelmäßig oder gelegentlich an den Ritualen des Candomblé und Umbanda teil, die inzwischen sogar ein wichtiger Bestandteil brasilianischer Folklore und Identität geworden sind.
Aus diesem Grund war ich auch nicht überrascht, wenn ich im Februar in der frühen Nacht am Strand von Santos joggen ging und einer Gruppe weiß gekleideter Menschen ausweichen musste, die mit Kerzen ein Areal im Strand abgesteckt hatten, Lieder sangen und später zusammen einige Schritte ins Wasser hinein liefen um ein kleines Boot mit Blumen ins Meer hinaus zu schieben – ein Geschenk an Iemanjá (auch Yemaná oder Iemojá), die Göttin (Orixá) des Meeres und der Mutterschaft.
Iemanjá, die Göttin des Meeres, wird in Brasilien auch an Silvester geehrt, wenn viele Brasilianer das neue Jahr ganz selbstverständlich am Meer mit sieben Sprüngen über sieben Wellen und einer kleinen Blumengabe ins Wasser beginnen. Nicht selten ist der Strand später mit Blumensträußen und Rosen übersät, die wieder ans Ufer zurück gespült wurden – eigentlich ein schlechtes Omen, denn es zeigt, dass Iemanjá das Opfer nicht angenommen hat.
Der offizielle Feiertag für Iemanjá ist aber nicht Silvester, er liegt im Februar. Im Candomblé ist es der 2. und im Umbanda der 15. Februar und diese Tage werden nicht nur im stark afrobrasilianisch geprägten Nordosten mit riesigen Feiern begangen, wie diese beeindruckenden Bilder aus Salvador zeigen. Auch im Südosten, z.B. in Rio, in Sao Paulo etc. wird Iemanjá gefeiert.
In Salvador ist das Fest der Iemanjá einer der populärsten und wichtigsten Feiertage des Bundesstaats Bahia. Jedes Jahr versammeln sich einige hundertausend Gläubige in weißer oder blauer Kleidung am Strand, übergeben ihre Opfergaben dem Wasser oder Fahren in Booten hinaus auf das Meer um dort da gleiche zu tun. Dabei werden von einzelnen Rosen bis zu riesigen Blumengestecken, Champagnerflasche oder sogar Schmuck für die Meeresgöttin geopfert, in der Hoffnung auf ein entsprechend gutes Jahr.
Und Brasilien wäre nicht Brasilien, wenn es nicht auch Menschen gäbe, die einen Weg gefunden haben, diese farbenfrohe Tradition zu ihrem persönlichen Vorteil zu nutzen. Der Iemanjá-Pirat ist ein älterer Herr aus Bahia, der nach den Festtagen mit Schnorcheln, Taucherbrille und Bleigürtel auf dem Meeresgrund auf die Suche geht nach allem, was er verwerten und verkaufen kann. Angesprochen, ob sein Tun nicht ein Ausdruck mangelnden Respekts gegenüber der Religion und den Traditionen Bahias ist, antwortete er. „Junger Mann, mangelnder Respekt ist es, das Meer auf diese Weise zu verschmutzen. Warum geben diese Leute, die sich religiös nennen, das Zeug nicht einfach an die Armen?“ Das ist nicht von der Hand zu weisen. Und ganz neutral betrachtet, ist es eine Situation, die allen Beteiligten hilft, entweder mit der Hoffnung auf ein gutes nächstes Jahr, oder mit einer kleinen Anschubfinanzierung für eben dieses Jahr. Iemanjá scheint es nicht sonderlich zu stören..
Iemanjás Tag
Foto von Lorena Brandz auf Flickr. CC BY 2.0